SV-Experte Reidt warnt vor Scheinselbständigkeit in bayerischen Kanzleien

Sorglosigkeit oder überzogene Risikobereitschaft?

Die Rechtsprechung ist eindeutig: Es drohen Nachforderungen im 5-6-stelligen Bereich!

Tatbestand: Die „scheinbare“ Beauftragung von Freelancern. Tatsächlich handelt es sich häufig nicht um ein Auftragsverhältnis, sondern um eine echte Scheinselbständigkeit, somit um ein Beschäftigungsverhältnis.

Fakt: Das hessische LSG bestätigte am 20.09.2018 die Clearingstelle anlässlich einer Scheinselbständigkeit in einer Steuerkanzlei.

Fallstrick für die Kanzleileitung als Auftraggeber ist der BSG-Beschluss vom 12.12.2018.

Neueste Rechtsprechung des BSG stellt für rückwirkende Zeiträume klar:

Es existiert ein einheitlicher Haftungsmaßstab für
1. die Erhebung der Säumniszuschläge (SZ),
2. den Tatbestand des bedingten Vorsatzes – 30-jährige Verjährungsfrist – (§ 25 SGB IV) und
3. die Anwendung der Nettolohnfiktion (§ 14 Abs. 2 S. 2 SGB IV).

Wichtig: Die Versicherungspflicht entsteht kraft Gesetz und steht nicht im „Ermessen“ der Kanzleileitung.

Das bayerische LSG positionierte sich bereits (LSG Bayern, Urteil vom 26.06.2015 - L 16 R 780/13):
Der Verzicht auf ein Einzugsstellen- bzw. Anfrageverfahren (§§ 28h, 7a SGB IV) kann auf bedingten Vorsatz schließen lassen, ein darauf beruhender Rechtsirrtum ist unbeachtlich.

Über den dolus eventualis ins Strafverfahren (§ 266a StGB)?
Genau diesen Umstand des „bedingten Vorsatzes“ des Kanzlei-Inhabers werden nunmehr die Prüfdienste zu untersuchen haben. Damit wird für Sie bereits feststehen:

  1. Die Anwendung der 30-jährigen Verjährungsfrist.
  2. Die Anwendung der Nettolohnfiktion.
  3. Daran orientiert die Erhebung der Säumniszuschläge.
    Somit mindestens eine 5 -6 stellige Nachforderungen.

Können strafrechtliche Ermittlungen ausgeschlossen werden? Nein, im Klartext:
Der bedingte Vorsatz aus § 25 SGB IV ist ausreichend für den subjektiven Tatbestand des § 266a StGB.

Zitat Staatsanwalt Jochen Metz, Ingolstadt (NStZ-RR 2013, 333)
"[…] Zur Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes ist bedingter Vorsatz (dolus eventualis) ausreichend. Dieser liegt vor, wenn der Arbeitgeber die Beitragsvorenthaltung für möglich hält und billigend in Kauf nimmt, ohne auf die Erfüllung der Beitragspflichten gegenüber den Sozialversicherungsträgern hinzuwirken. Die teilweise Verrichtung der Tätigkeiten einer Bilanzbuchhalterin außerhalb der Betriebsräume und fehlende inhaltliche Einzelweisungen stehen der Annahme einer abhängigen Beschäftigung nicht entgegen […]"

Aus aktuellem Anlass bietet der LSWB ein Spezialseminar aus der Compliance-Serie zum Thema an, in denen die Risiken und Handlungsoptionen klar dargestellt werden.